In einer aufwühlenden Rede hat der Bürgermeister der Münchner Partnerstadt Kiew, Vitali Klitschko, dem Münchner Stadtrat per Videobotschaft die Situation in seiner Stadt und in der Ukraine geschildert. Er bedankte sich für die humanitäre Hilfe aus München und wies eindrücklich darauf hin, dass nur ein kompletter wirtschaftlicher Boykott Putin stoppen kann.
Bei der Vollversammlung des Münchner Stadtrates am 23. März 2022 im Showpalast in München Fröttmaning hat der Bürgermeister von Münchens Partnerstadt Kiew in einer Videobotschaft mit aufwühlenden Worten die Situation in der Ukraine geschildert und sich bei der Münchner Bevölkerung für die Unterstützung bei der Aufnahme von Geflüchteten und die Spendenbereitschaft gedankt.
Klitschko eröffnete seine Ansprache mit der Beschreibung seit Beginn des Angriffskrieges von Putin auf die Hauptstadt der Ukraine: „Wenn vor zwei Monaten jemand gesagt hätte, Tausende von Zivilisten werden in der Ukraine Opfer eines Krieges, hätte man uns für verrückt erklärt. Jeden Morgen wenn ich aufwache, denke ich, dass das alles ein Alptraum ist, was passiert. Ich mache meine Augen auf und muss realisieren, dass das alles wirklich ist. Wir sehen brennende Häuser; Tag und Nacht hören wir die Sirenen, die auffordern, in die geschützte Räume zu gehen, weil die Raketen jedes Gebäude in unserer Hauptstadt Kiew treffen können. Wir hören jede Stunde Explosionen, nicht so weit von der Stadtmitte entfernt.
Klitschko: Wir können die Leichen nicht zählen
Dann analysiert er die Zielsetzung von Putin und seine Ambition, wieder ein großes, mächtiges russisches Imperium aufzubauen und betont: „Dies ist ihm wichtiger als das Leben von Menschen und wichtiger als der Frieden in Europa. Einige Städte in der Ukraine hat er schon ausradiert. Die Leichen können wir gar nicht zählen, weil die Sprengstoffe alles zerstückelt hat.“ Dabei verweist der Bürgermeister auch auf die Verluste auf der russischen Seite, auf der junge Soldaten in riesigem Ausmaß geopfert werden. Klitschko berichtet: „Unser Geheimdienst hat uns informiert, dass Leichen im Gewicht von insgesamt 70 Tonnen nach Russland gebracht wurden. Ich habe gefragt, wie, 70 Tonnen? Die Antwort war, man könne die Körper nicht zählen, denn durch die Sprengwirkungen sind das vielfach Körperteile, die nach Hause transportiert werden. Schrecklich? Ja, schrecklich auf beiden Seiten.“
Klitschko verweist auf seinen Vater, der Kommunist war. Ganze Generationen seien in der Sowietunion in dem Bewusstsein aufgewachsen: „Wir sind die Stärksten in der Welt, wir sind die Besten. Der Kapitalismus wird uns versklaven. Als ich dann in den Westen kam und ihm meine Eindrücke vermitteln wollte, hat er mir die Lügen der russischen Propaganda nicht geglaubt. Warum erzähle ich das? Weil das heute auch noch so ist. Ich spreche mit vielen Bekannten und Verwandten in Russland, die vielfach eine hohen Bildungsgrad haben. Aber auch diese sind alle von der russischen Meinungsmache beeinflusst, die verbreitet, wir in der Ukraine wären Extremisten, Faschisten, Nationalisten und wir würden Russen hassen. Sie alle glauben daran!“
Propaganda ist die wichtigste Waffe von Putin
Dann ruft das Kiewer Stadtoberhaupt sehr emotional: „Wie könnten wir, mein Bruder und ich, Russen hassen? Die Hälfte von uns ist russisches Blut, weil meine Mutter Russin war. Meine erste Sprache ist russische Sprache. Wir haben gar nichts gegen Russland, aber wir haben sehr viel gegen aggressive russische Politik.“ Putin habe es verstanden, dass die wichtigste Waffe in der heutigen Zeit nicht die militärische Ausrüstung, sondern die Medien seien. Dabei nennt er ein Beispiel: Das Budget des Senders Russian Today (RT) sei mit mehr als zwei Milliarden Euro größer als das Budget der Hauptstadt Kiew. Klitschko hält es für sehr wichtig die Menschen zu sensibilisieren, welche Lügen dort verbreitet werden und Gehör finden.
Klitschko begründet, warum es den Ukrainern gelingt, sich so lange gegen die Invasion zu stemmen: „Russland hat vermutet, die Hauptstadt Kiew in ein paar Tagen zu erobern. Ist die Hauptstadt gefallen, ist das Land gefallen. Jetzt nach vier Wochen sind sie immer noch nicht in der Hauptstadt. Niemand in Europa hat gedacht, dass wir in der Lage sind, uns so lange zu verteidigen. Die russische Armee kämpft halbherzig, wir aber verteidigen unsere Frauen, unsere Kinder, unsere Zukunft. Weil wir wissen, was Diktatur bedeutet, wo es keine Menschenrechte und keine Pressefreiheit gibt. Schauen Sie nach Russland, dort hat jeder Angst etwas zu sagen, weil der dann sofort im Knast landet. Wir kämpfen für unsere Zukunft.“
Dann gibt er zu bedenken: „Wenn jemand im Westen denkt, der Krieg ist weit weg und wird uns nicht berühren, ist das falsch. Dieser Krieg gilt einem der größten Länder Europas und berührt jeden Bürger der Europäischen Union. Wir wissen nicht, wo das alles enden wird und welche Visionen Putin noch verwirklichen will. Wir hören aus Moskau, die baltischen Republiken müssen zurück ins russische Reich. Die Pläne werden weiterlaufen.“
Putin betreibt Genozid mit Massenvernichtungswaffen
Dabei wirft er Russland Genozid vor und hält zwei Eisenkügelchen in die Kamera. Klitschko sagt: „Wir sehen, welche Waffen sie in der Massenvernichtung verwenden. Raketen, bestückt mit vielen kleinen Kügelchen, die nur einen Zentimeter groß sind, aber alles menschliche Leben im Umkreis von 500 Metern zerstörten. Das ist Völkermord.“
Zur Motivation der Verteidigungsbereitschaft seines Volkers erzählt er von einem Beispiel: „Keiner von uns hat gedacht, dass wir jemals Militäruniform anziehen werden und ein Waffe in unsere Hände nehmen werden. Eine Rakete hat vor zwei Tagen in Kiew ein Gebäude mit Appartements getroffen. Vier Menschen sind gestorben, 20 Menschen sind im kritischen Zustand. Ein 60-jähriger Mann kommt zu mir und wusste nicht was er nun machen soll, nachdem seine Wohnung zerstört wurde. Ich habe ihm geraten, vorübergehend ins Ausland zu gehen, um sicher zu sein. Seine Antwort hat mich schockiert und auch tief berührt. Er hat gesagt: ‚Ich will nicht weg. Ich habe hier mein ganzes Leben verbracht. Geben Sie mir eine Waffe, um meine Stadt zu verteidigen.‘ Die Menschen bekommen eine riesige Wut und wollen kämpfen. Kiew wird niemals russisch. Besser sterben wir, als wir Aggressoren in Stadt lassen. Wir gehen niemals in die Knie und werden Sklaven sein. Wir kämpfen nicht nur um unsere Stadt und unser Land. Wir kämpfen um Werte und Prinzipien. Wir wollen ein demokratisches Land sein. Deswegen kämpfen wir auch für Euch, weil wir nicht wissen, wie weit Putins Pläne gehen.“
Dabei sei die humanitäre Hilfe aus Europa auch so wichtig, betont er. Er wendet sich direkt an die Münchner Bevölkerung und sagt: „Deswegen sind wir sehr, sehr dankbar für Eure Hilfe. Wir haben viele Unterstützung von München bekommen und schätzen das sehr.“
Klitschko appelliert für einen totalen Wirtschaftsboykott von Russland
Klitschko bittet aber auch darum, einen vollständigen Boykott der russischen Wirtschaft zu unterstützen und erklärt dabei: “ Ich verstehe, dass Sanktionen wirtschaftlich schmerzhaft sind. Aber Russland hat uns nach der Abgabe unserer Atomwaffen unsere Unabhängigkeit garantiert und es nicht gehalten. Ich appelliere, stoppen Sie alle wirtschaftlichen Verbindungen mit Russland. Jeden Euro, den er bekommt, investiert er nicht in die eigene Wirtschaft, sondern in das Militär und den Kampf gegen die Ukraine. Ich weiß, ein Boykott ist sehr schmerzhaft, aber anders geht es nicht. Experten sagen mir, dieser Krieg ist nur damit zu stoppen. Entschuldigung, das ist hart zu hören, aber es gibt keinen anderen Weg. Das ist ein Krieg von Putin gegen europäische Werte und Prinzipien. Leider ist das hier Schwarz/Weiß. Wer Kompromisse eingeht, hilft dem russischen Aggressor. Leider muss ich das so sagen.“
Stadtrat reagiert mit stehenden Applaus auf die Rede von Klitschko
Mit stehenden Applaus bedanken sich Stadträte in München für die Rede von Klitschko. Oberbürgermeister Dieter Reiter erwidert Klitschko: „Das waren sehr aufwühlende Worte, wir sind tief betroffen von Deinen Schilderungen. Wir sehen tägliche die Bilder, sehen dass das kein Krieg gegen militärische Ziele ist, sondern auch einer gegen die Zivilbevölkerung ist. Das macht uns ungeheuer wütend auf den russischen Machthaber. Wir bekommen mit, wie Deine Landsleute hier ankommen, oft traumatisiert und doch sind viele voller Hoffnung, dass sie bald wieder zu Euch in ihre Heimat zurück können. Eurer unglaublicher Mut gibt ihnen und auch uns Hoffnung und Kraft. Wir wissen, ihr kämpft nicht nur für Euch, ihr kämpft für unser aller Demokratie und unser aller Freiheit. Vielen Dank dafür, Vitali. Ihr könnt Euch auf unsere Solidarität verlassen.“
Reite rnutzt auch die Gelegenheit, sich im Namen des Stadtrats für die Hilfsbereitschaft der Münchnerinnen und Münchner zu bedanken: „Tausende Menschen in München haben ihre Türe geöffnet, um Geflüchtete aufzunehmen. Tausende sind ehrenamtlich engagiert, um zu helfen. Die Spendenbereitschaft der Münchnerinnen und Münchner ist riesig. Wir sind erleichtert, dass der Zug mit Hilfsgütern aus München unbeschadet eingetroffen ist.“ Er appelliert an Klitschko, sich sofort zu melden, wenn weiterer Bedarf besteht und verspricht: „All das, was wir leisten können, werden wir tun.
Im Anschluss an die Rede von Bürgermeister Klitschko hat der Stadtrat eine Gedenkminute für die Opfer dieses schrecklichen Krieges abgehalten.